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Aufsatz
2012
abgeschlossen
21.08.2024
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„QVID TVM – Was also ist es, das die Aufmerksamkeit des Blickes lenkt?“ (Devise des tastenden Flugauges Albertis)[1]
Wenn das Auge ‚sieht‘ und zugleich den Bann der Bilder ‚spürt‘[2], dann kommt der Annäherung eine besondere Bedeutung zu.[3] Mit dem Beginn der Flugerfahrung indes, hat sich das Blickfeld nicht nur erweitert, sondern vervielfacht. Räume und Entfernungen sind schneller überbrückt und schwerer zu erfassen. Land- wie Ortschaften mitsamt ihren Baukörpern verflüchtigen sich auf Reisen.[4] Ein Ensemble wie ein Flughafen, das in seiner Gänze nur noch von oben zu überblicken ist, droht für den Betrachter auf dem Boden seinen Zusammenhalt zu verlieren.
Inspiriert durch die neuen visuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten aus der Luftfahrt allerdings, richteten etwa die Vertreter der sowjetischen Architekturavantgarde in den 1920er Jahren ihre Aufmerksamkeit gerade auf den oberen Bereich neuer Gebäude.[5] Indem das Dach einen ‚frontalen Wert‘ erhielt und zur fünften Fassade wurde, schien die ‚Schwerkraftsarchitektur‘ endgültig überwunden. Durch die Hervorhebung des horizontalen Daches, so Fritz Wiechert, zeige sich die Vertikale in ihrer Wirkung geschwächt. Die Folge sei das stereometrische System: die Architektur würde nun nicht mehr aus dem Boden wachsen, vielmehr einfach darauf liegen.[6]
Umgekehrt hingegen wohnt nur dem Landeanflug ein einmaliger Augenblick inne: „Der Boden tritt rund und üppig aus der kartenhaften Flachheit hervor, zu der er durch Stunden vermindert war, und die alte Bedeutung, welche die irdischen Dinge wieder erlangen, scheint aus dem Boden zu wachsen.“ (Robert Musil).[7] Noch im Oben bot die frühe Bildgeschichte der Luftfahrt zur leichteren Orientierung ‚Perspektivträger‘: beispielsweise ein Teil der Tragflächen eines Flugzeuges oder seines Fahrwerkes. Sie wollten uns zugleich sagen: Du bist an einem ungewöhnlichen Ort!
Inzwischen ist das Fliegen so selbstverständlich geworden, dass wir visuelle Hilfen scheinbar nur noch in Form von Piktogrammen benötigen, die uns zugleich leiten und beschleunigen. Dabei ist es vielleicht gerade der Bildcharakter eines Flughafens, der Identität schafft und inne halten lässt. Umso erstaunlicher ist es, dass eine ‚Bildtypologie‘ zur Luftfahrtarchitektur noch aussteht.[8]
Anmerkungen
- 1↑Zit. nach Markus Rath: Albertis Tastauge. Neue Betrachtungen eines Emblems visueller Theorie, in: kunsttexte.de, Nr. 1, 2009, (7 S.), hier S. 4, URL: www.kunsttexte.de, [letzter Zugriff: 21.08.2024].
- 2↑Ebd. S. 7.
- 3↑Meiner Frau Birgit gewidmet zum 28.5.2012.
- 4↑Eine umfassende Kulturgeschichte der Luftfahrt bietet Christoph Asendorf: Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien/ New York 1997 (= Ästhetik und Naturwissenschaften, Bildende Wissenschaften – Zivilisierung der Kulturen; siehe dazu auch Bodo-Michael Baumunk (Hrsg.): Die Kunst des Fliegens, Ausst. Kat. Zeppelin Museum Friedrichshafen, Ostfildern-Ruit 1996; Alexander von Vegesack/ Jochen Eisenbrand (Hrsg.): Airworld – Design und Architektur für die Flugreise, Ausst. Kat. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2004.
- 5↑Igor Alexandrowitsch Kasus: Die Luftfahrt und die sowjetische Avantgardearchitektur der 20er Jahre, in: Baumunk 1996 [wie Anm. 4], S. 140–151, hier S. 143 f.
- 6↑Fritz Wichert: Luftschiffahrt und Architektur, in: Frankfurter Zeitung, 21. März 1909, 1. Morgenblatt, S. 1; leicht gekürzt erneut in: Tilmann Buddensieg (Hrsg.)/ Henning Rogge (Mitarb.)/ Gabriele Heidecker (Mitarb.): Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914, Berlin 1979, S. D 292–D 294; vgl. dazu Asendorf 1997 [wie Anm. 4], S. 2, 56, 60.
- 7↑Zit. nach Asendorf 1997 [wie Anm. 4], S. 119.
- 8↑Siehe hierzu eine Skizze des Verfassers, Ralph Knickmeier: überFLÜGE, in: Nicole Hegener/ Claudia Lichte/ Bettina Marten (Hrsg.): Curiosa Poliphili. Festgabe für Horst Bredekamp zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, S. 114–122. — Zur Architekturgeschichte von Flughäfen grundlegend John Zukowsky (Hrsg.): Building for Air Travel. Architecture and Design for Commercial Aviation, Munich/ New York 1996 [zugleich Ausst. Kat. The Art Institute of Chicago 1996].
Literatur
- Ralph Knickmeier, überFLÜGE, in: Nicole Hegener/ Claudia Lichte/ Bettina Marten (Hrsg.): Curiosa Poliphili. Festgabe für Horst Bredekamp zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, S. 114–122
- Ralph Knickmeier, Touch-down in Wien | Wie viele Zeichen, Farben und Bilder verträgt ein Flughafen?, in: Maria Effinger/ Stephan Hoppe/ Harald Klinke/ Bernd Krysmanski (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst: Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag, Heidelberg: arthistoricum.net, 2019, S. 399–408